Digitalität

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Begriffsklärung

Um den Begriff „Digitalität“ genauer zu fassen, ist es notwendig, ihn von den beiden ebenfalls in diesen Zusammenhang gehörenden Begriffen „Digitalisierung“ und „digitale Transformation“ abzugrenzen. In seinem Fachvortrag „Von der Digitalisierung zur Digitalität“ beschäftigte sich Dr. Matthias Wörther im Rahmen des vom Dachauer Forum veranstalteten Pädagogischen Fachtags „Verantwortete Digitalisierung“ am 21. Januar 2020 in der Katholischen Landvolkshochschule Petersberg mit diesem Themenbereich und den damit zusammenhängenden Entwicklungen.

Digitalisierung

„Digitalisierung“ bezeichnet eine technologische Entwicklung, die Mitte des letzten Jahrhunderts in Gang gekommen ist. Eine zentrale Rolle spielte dabei der englische Mathematiker Alan Turing, der das Konzept der Turingmaschine entwickelt hat. Es handelt sich um ein mathematisches Modell, das das programmierte schrittweise Abarbeiten von Algorithmen darstellt. Die technische Umsetzung seiner Ideen führte unter anderem zu den heutigen Computern, die im Prinzip auf der Basis von Ja-Nein-Entscheidungen (Strom oder kein Strom) hochkomplexe Operationen durchführen. Von daher lassen sich alle Softwareprogramme auf eine binäre Grundstruktur zurückführen und als im Dualsystem berechnete Algorithmen verstehen.

Die Vertreter der Möglichkeit einer „starken“ künstlichen Intelligenz, die den Menschen schließlich überlegen sein soll, gehen davon aus, man müsse und könne die Welt (einschließlich der Menschen) vollständig als Informationsphänomene begreifen. Deshalb werden alle Aspekte der Wirklichkeit als grundsätzlich formalisierbar, kontrollierbar, veränderbar und steuerbar („algorithmisierbar“) dargestellt. Die Digitalisierung wird in dieser Perspektive zum umfassenden Entwicklungs- und Zukunftsprojekt, das auf die Überführung aller Phänomene in digitale Modelle und Simulationen abzielt.

Digitale Transformation

Die praktische Dimension dieses Ansatzes mit seinen durchaus revolutionären Konsequenzen zeigt sich in der „digitalen Transformation“, die, ausgehend von den westlichen Industriestaaten, inzwischen weltweit unsere Gesellschaften, deren Kommunikationswege, den Handel, das soziale Verhalten und den Umgang mit Information bestimmt. Die symbolträchtigste Ikone dieser Entwicklung ist das Smartphone, dessen bunte Oberfläche mit ihren unterschiedlichsten Anwendungen kaum mehr erkennen lässt, dass es sich letztlich um eine Rechenmaschine handelt. Man kann viele weitere, oft aufeinander bezogene und interdependente Aspekte der digitalen Transformation nennen, beispielsweise das Internet, die IP-Telefonie, automatisierte Fertigungsstraßen, autonome Autos, die elektronische Buchführung und Verwaltung, das Online-Banking, Social Media, wie etwa WhatsApp oder Facebook, usw. Diese „digitale Transformation“, die sich weiter beschleunigt, führt zu massiven Veränderungen in allen Lebensbereichen. Was genau sie alles noch bewirken wird, kann niemand solide voraussagen.

Unbestreitbar ist inzwischen jedoch, dass sich unsere Kultur verändert, und zwar hin zu einem neuen Raum, in dem das Verhältnis zwischen analogen und digitalen Gegebenheiten überhaupt erst verantwortet zu bestimmen ist – von den Regeln für den Gebrauch von Smartphones bis hin zu unserem Selbstverständnis und unserer Auffassung von Wirklichkeit überhaupt.

Die Kultur der Digitalität

„Kultur der Digitalität“ ist der Titel eines viel zitierten Buches des Schweizer Kultur- und Medienwissenschaftlers Felix Stalder, in dem drei entscheidende Merkmale dieser Kultur der Digitalität beschrieben werden:

Alles mit allem (Foto: Gerd Altmann, CCO)

1) Die Referentialität: Das anschaulichste Beispiel hierfür ist das Internet mit seiner Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, mit seiner prinzipiellen Verweisstruktur, in der sich alles auf alles beziehen lässt, und mit seinen flachen Hierarchien.

2) Die Gemeinschaftlichkeit: Facebook wirbt derzeit mit dem Slogan: „Für jeden gibt es eine Facebook-Gruppe“. Anders gesagt: Egal, wie entlegen persönliche Interessen sind, man kann sich weltweit mit allen Gleichgesinnten vernetzen, und zwar unabhängig von Institutionen und bedarfsweise zeitlich begrenzt.

3) Die Algorithmizität: Alle Lebensphänomene werden als algorithmisierbar begriffen und in vielerlei Hinsicht sind sie es auch. Dazu gehört z. B. die Entwicklung von „künstlicher Intelligenz“ oder von präzisen Klimamodellen.

Die Entwicklung einer Kultur der Digitalität in Bildungszusammenhängen

Von diesen drei Merkmalen der Digitalität ist sicherlich die Algorithmizität dasjenige, was in Bildungszusammenhängen ganz besonders reflektiert werden muss, weil es einen Vollständigkeitsanspruch impliziert, der in extremen Entwürfen, wie etwa dem Transhumanismus, zu einer unrealistischen Ideologie der Optimierung und Vervollkommnung des Menschen und der Natur führt.

Strenge Ordnungen (Foto: James Childs, CC0)

Einschlägige Schlüsselbegriffe von Bildungskonzepten müssen deshalb gegen solche Ansprüche verteidigt werden, gerade wenn es um die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Prinzipien und Elemente einer Kultur der Digitalität geht.

Dazu fünf Vorschläge:

1) Ist Kompetenz das Thema, so muss im selben Zusammenhang von Erfahrungen der Diskontinuität und deren Unvermeidlichkeit die Rede sein. Eine umfassende Kompetenz der Computer ist, ebenso wie die angestrebte Bruchlosigkeit von Systemen, illusionär. Die beliebte Auskunft „Das System lässt es nicht zu“ heißt einfach nur, Rechnern oder Expertensystemen fehlt die Kompetenz, mit einer bestimmten Situation angemessen umzugehen.

2) Ist von Professionalität die Rede, dann müssen im selben Zusammenhang der alltägliche Gebrauch und Nutzen von Technik, das täglich geforderte „Basteln“ an vorläufigen Lösungen und die eigene Improvisationsfähigkeit als Bildungsinhalte Thema sein. Mit dem auszukommen, was vorhanden ist, ist eine lebensnotwendige Form der Kreativität, also ein produktiver und legitimer Umgang mit dem, was verfügbar, und dem, was nicht verfügbar ist. Improvisationsfähigkeit ist, so betrachtet, eine alltagspraktische Kritik an Algorithmizität.

3) Wird auf Objektivität abgehoben, so sollte auch von subjektiven Vorlieben und individuellen Assoziationen die Rede sein. Wenn etwas – nach welchen Kriterien auch immer – objektiv die beste Lösung sein soll, wird sie nur funktionieren, wenn sie mich betrifft, wenn ich als Subjekt etwas mit ihr anfangen kann, wenn ich mich auf sie beziehen kann. Weckt ein objektives Faktum subjektive Assoziationen, dann können diese weiterführender und erhellender sein als das Faktum selbst.

4) Setzen wir auf Algorithmen, dann sollten wir nie die Fähigkeit von Menschen zu subjektiver, intuitiver und überraschender Kombinatorik außer Acht lassen. Was Menschen außerhalb von optimierten Lernprogrammen und systematisierter Ausbildung zustande bringen, wird in vielerlei Umgebungen jeder Software überlegen sein. Innovation lebt von der Freiheit der Autodidakten und dem Eigensinn persönlicher Interessen.

Algorithmen ratlos – Menschen nicht (Foto: Wörther)

5) Ist Optimierung gefordert, so muss gleichzeitig auf den Nutzen von Nichtstun und postheroischem Management (eine Formulierung des Soziologen Dirk Baecker) verwiesen werden. Mit „postheroischem Management“ ein aufschiebendes und gerade deshalb produktives menschliches Verhalten gemeint, das die Lösung eines Problems dem „Einschlafen, Aufwachen, Duschen oder Spazierengehen“ überlassen kann. Gelassener Kontrollverlust kann so als Gegengift zu lähmenden Dringlichkeitspostulaten dienen.

Die Entwicklung einer Kultur der Digitalität und die Auseinandersetzung mit ihr steht noch am Anfang. Was sind zehn Jahre Umgang mit Smartphones gegen 500 Jahre Nutzung von Büchern? Wer will, wer kann heute schon ein abschließendes Urteil über die kulturelle Bedeutung digitaler Techniken fällen? Wenn man mit dem Philosophen Markus Gabriel Intelligenz als zentrale Eigenschaft von lebenden Wesen betrachtet, die sich mit deren Hilfe in ständig sich wandelnden Situationen orientieren und überleben („Intelligenz ist Problemlösungsfähigkeit relativ zu einem Zeitparameter“), dann sollten wir auch in der Digitalität auf sie vertrauen. Wer, wenn nicht wir selbst, die wir diese Entwicklung angestoßen haben, sollte wissen können, was an ihr menschendienlich ist und was nicht?

Literatur

  • Allert, Heidrun (Hg.): Digitalität und Selbst, Bielefeld 2017.
  • Gabriel, Markus: Der Sinn des Denkens, Berlin 2018.
  • Derselbe: Ich ist nicht Gehirn, Berlin 2015.
  • Derselbe: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013.
  • Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2019.

Weiterführende Links