Potenziale digitaler Bildung für die Integration
Spracherwerb ist der Schlüssel und die Grundvoraussetzung für eine gelungene Integration. Digitale Bildung bietet hier vielfältige Möglichkeiten, um den Spracherwerb zu unterstützen: So können Apps, E-Learning-Programme, Onlinekurse, MOOCs, Learning Nuggets oder Tutorials Sprachkurse oder klassische Textbücher teilweise ersetzen und um interaktive, multimediale Komponenten mit direkter Feedback-Funktion erweitern. Es kann im eigenen Tempo flexibel gelernt werden, wann immer sich Zeit dafür findet. Videochats ermöglichen z. B. digitale Sprachtandems, bei denen Aussprache, Vokabeln und Grammatik mit einem Muttersprachler geübt werden können. Und dem Mangel an verfügbaren Sprachkursen kann mit Livestreaming und Ansätzen des virtuellen Klassenzimmers entgegengewirkt werden.
Spracherweb
Freie Bildungsmaterialien bieten zusätzliche Möglichkeiten für das Selbststudium. Zudem gibt es Apps für die Übersetzung gesprochener oder geschriebener Worte oder Konversation in und aus mehreren Sprachen, die dabei helfen, den eigenen Wortschatz zu erweitern, und die gerade in der Anfangsphase die Kommunikation oder auch den Einkauf oder das Ausfüllen eines Formulars erleichtern können. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang Fortschritte im Bereich der Spracherkennung. Sprachlern-Apps beispielsweise bieten auf diese Weise sofort verfügbare, niedrigschwellige, nahezu beliebig skalier- und anpassbare Einstiege in die deutsche Sprache – mit leichter Erweiterbarkeit um regionale Dialekte.
Erste Orientierung
Sprache bildet auch die Voraussetzung, um die richtigen Fragen zu stellen. Diese reichen von grundlegenden Informationen (Wie funktioniert das Schul- und Ausbildungssystem?) über erwartete Verhaltensweisen (Wie spreche ich mit einem Lehrer?) bis hin zu politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen (Was ist verboten, was ist erlaubt?). Zusätzlich gibt es auch in Deutschland regionale Unterschiede und ungeschriebene Regeln, die mal befremdlich (Schützenfest und Karneval) wirken, mal spürbar sanktioniert werden (Kehrwoche). Digitale Bildung kann auch hier einen Mehrwert bieten, indem Regeln explizit gemacht, beschrieben und erklärt werden. Integrations- und Bildungs-Apps werden häufig um eine solche Komponente erweitert. Besonders eignen sich hierfür auch Tutorials oder Lernspiele.
Schule, Hochschule, Arbeitsmarkt
Bei der Integration in Schule, Hochschule und Arbeitsmarkt bedürfen Geflüchtete und Migranten besonderer Unterstützung. Die unterschiedlichen Bildungsinhalte und die Struktur des Bildungssystems gemeinsam mit anfänglichen Sprach- und Anpassungsschwierigkeiten erfordern insbesondere in der Anfangsphase eine gezielte individuelle Förderung. Hier bietet digitale Bildungsvermittlung flexible Lösungen. So können Lerninhalte mithilfe von MOOCs oder anderen digitalen Bildungsmaterialien individuell nachgeholt und abgeprüft werden, ohne dass die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte in größerem Umfang steigt.
Digitale Vorbereitungskurse und Eignungstests erleichtern den (Wieder-)Einstieg in das Bildungssystem. Dabei können bereits vorhandene Tests ggf. in die Muttersprache des jeweiligen Prüflings übersetzt werden, um Rückstufungen im Bildungsweg einzig aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse zu vermeiden. Bei Sprachschwierigkeiten im Unterricht oder bei den Hausaufgaben können wiederum Übersetzungs-Apps helfen. Zusätzlich können Online-Tutoren weitere individuelle Unterstützung bieten, wenn eine Betreuung vor Ort nicht möglich oder nur schwer umsetzbar ist.
Ein Selbststudium mit digitalen Mitteln wie Tutorials, Learning Nuggets, MOOCs oder freien Bildungsmaterialien bietet außerdem die Möglichkeit, die Zeit sinnvoll zu nutzen, bis über den Asylantrag, die Erlaubnis zu arbeiten oder eine Hochschule zu besuchen, entschieden ist.
Bei der Integration in den Arbeitsmarkt können Übersetzungsprogramme die anfängliche Kommunikation erleichtern. Tutorials zeigen und erklären die korrekte Ausführung bestimmter Tätigkeiten.
Ein großes Hindernis für die Integration in den Arbeitsmarkt stellt die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse dar. Liegen offizielle Berufsabschlusszertifikate vor, so müssen die Inhalte der Qualifikation mit denjenigen, die die jeweilige Berufsordnung in Deutschland vorschreibt, übereinstimmen, damit die Berufsbezeichnung auch in Deutschland geführt werden darf.
Besonders problematisch ist es jedoch, wenn – wie im Fall vieler Geflüchteter – die Originaldokumente nicht vorliegen und die entsprechenden ausländischen Stellen nicht reagieren. Unter diesen Umständen müssen die Berufsabschlussprüfung und ggf. Teile der Berufsausbildung wiederholt werden. Dies führt zu erheblichen Verzögerungen, bis die Person dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen kann. Auch hier können digitale Mittel eine unterstützende Funktion einnehmen, indem fachspezifisches Wissen abgefragt und evaluiert werden kann.
Digitale Bildung kann aber auch dabei helfen, ein besseres Verständnis für die Situation Geflüchteter und ihre alltäglichen Herausforderungen zu entwickeln. Insbesondere im Bereich „Serious Games“ hat es zu diesem Thema in letzter Zeit einige interessante Entwicklungen gegeben. So kann für ein besseres Zusammenleben digitale Bildung auf der einen Seite dazu beitragen, Geflüchteten die Integration zu erleichtern, und auf der anderen Seite Verständnis und Mitgefühl fördern.
Praxisbeispiel I: Die App „Ankommen“
Ein Beispiel für die Nutzung digitaler Möglichkeiten für die Integration Geflüchteter ist die Service- und Lern-App „Ankommen“, die gemeinsam vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, der Bundesagentur für Arbeit, dem Goethe-Institut und dem Bayerischen Rundfunk entwickelt wurde. Die App ist kostenlos, funktioniert sowohl online als auch offline und ist in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch und Farsi verfügbar. Dass sie auch offline funktioniert, ist ein wichtiger Faktor, denn in vielen Erstunterkünften gibt es keine Internetversorgung.
Die App richtet sich insbesondere an neu ankommende Geflüchtete in ihren ersten Wochen in Deutschland und dient der initialen Orientierung. Sie ist in drei Teile untergliedert: Im ersten Teil „Asyl, Ausbildung, Arbeit“ werden Informationen zu Rechten und Pflichten im Asylverfahren und zu Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland vermittelt. Dazu gehören z. B. Informationen zur Schulpflicht, zum Mindestlohn oder zum Verfahren zur Erlangung einer Arbeitserlaubnis. Der zweite Teil „Leben in Deutschland“ informiert in 13 verschiedenen Kategorien über Kultur und Grundwerte, Gesundheit, Regeln des Zusammenlebens (wie Gleichberechtigung, Religionen und Religionsfreiheit), die politische und rechtliche Ordnung (wie die Verfassung, den Rechtsstaat oder die Polizei), Essen, Einkaufen und Wohnen. Auch auf Klischees und Vorurteile wird in der Kategorie „Typisch deutsch?“ eingegangen. Unterlegt werden die Informationen durch Erfahrungsberichte von Migranten. Der dritte Teil der App besteht aus einem kurzen multimedialen Sprachkurs, durch den Hör- und Leseverstehen sowie schriftliche Sprachkenntnisse erlernt und geübt werden können. Besteht ein Zugang zum Internet, können über einen Stream täglich neue Angebote zum Lernen und Lesen abgerufen werden. (Hurtz, Simon 2016)
Praxisbeipiel II: Virtuelle Hochschule für Geflüchtete
Die virtuelle Hochschule für Geflüchtete „Kiron Open Higher Education“ wurde im Jahr 2015 von zwei Berliner Studierenden gegründet, um Geflüchteten ein Studium auch ohne die ansonsten notwendigen Voraussetzungen und Formalitäten, Sprachkenntnisse und Dokumente zu ermöglichen. Unabhängig vom Aufenthaltsstatus kann jede Person mit Flüchtlingsstatus ein Studium beginnen. Das Studium ist für die Geflüchteten kostenlos. Die virtuelle Hochschule bietet ihren Unterricht ausschließlich online an. Jedem Studierenden wird ein Laptop zur Verfügung gestellt, damit er an den Kursen teilnehmen kann. Die Nutzung von Bibliotheken wird ebenfalls ermöglicht. Das Studium ist auf drei Jahre ausgelegt. Im ersten Jahr absolvieren die Studierenden online ein Studium generale. Im zweiten Jahr können Onlinekurse in einer von vier Studienrichtungen belegt werden: Betriebswirtschafts- und Volkswirtschaftslehre, Ingenieurwissenschaften, Informatik oder Sozialwissenschaften. Es handelt sich dabei um MOOCs, die über internationale Online-Plattformen wie Edx, Coursera, iVersity oder openHPI belegt und von Universitäten, wie Stanford, Harvard, Yale oder dem MIT, kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Die Unterrichtssprache ist Englisch. Nach erfolgreichem Bestehen der Kurse können sich die Studierenden an einer von derzeit 23 Partnerhochschulen bewerben, um dort ihr drittes Studienjahr zu absolvieren und einen Abschluss zu erlangen. Dies ist wichtig, weil Kiron selbst keine akademischen Titel verleihen darf.
Praxisbeispiel III: „Last Exit Flucht“
Das Serious Game „Last Exit Flucht“ vom Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) soll erlebbar machen, wie es ist, das eigene Land verlassen zu müssen. Es wurde 2007 für den Grimme Online Award nominiert. Das interaktive Spiel besteht aus drei Teilen und bietet zusätzlich Hintergrundinformationen zum Thema „Flucht und Menschenrechte“ und einen Lehrer*innenleitfaden. Es ist kostenlos verfügbar und für Jugendliche ab 13 Jahren geeignet. „Last Exit Flucht“ ermöglicht es, Flucht und Vertreibung aus einer anderen Perspektive zu erleben und dabei die eigenen Vorstellungen und Sichtweisen zu hinterfragen. Es kann somit einen Beitrag zur Integration leisten, indem es die Empathie für die Lage der Geflüchteten steigert und zu mehr Toleranz beiträgt. Mit dieser inhaltlichen Zielsetzung richtet sich das interaktive Spiel an Menschen in der Aufnahmegesellschaft und zeigt, dass Integration ein Prozess ist, der nicht nur auf Seiten der Geflüchteten vollzogen werden muss.
Praxisbeispiel IV: Lernen – Lehren – Helfen
Das 2016 gestartete Projekt „Lernen – Lehren – Helfen“ soll Ehrenamtliche dabei unterstützen, geflüchteten Menschen die notwendigen Sprachkenntnisse zu vermitteln, um im Alltag zurechtzukommen, eine Ausbildung zu absolvieren oder ein Studium an einer deutschen Hochschule zu beginnen. Das Projekt wird vom Bayerischen Innenministerium finanziert und kann den Ehrenamtlichen deshalb Materialien und Schulungen kostenlos zur Verfügung stellen. Das Projekt bietet für Ehrenamtliche mehrere Schulungen an:
- Einen Ersthelfer-Leitfaden für Ehrenamtliche mit praktischen Vermittlungshinweisen
- Ein E-Learning-Format mit den Materialien der Deutsch-Uni Online (DUO)
- Eine Schulung zur Nutzung unserer Apps „Navi-D“, „WIR in Deutschland“ und „WIR gegen Corona“ im Unterricht
Das Onlinnstudium der Deutsch-Uni Online soll Geflüchteten die notwendigen Sprachkenntnisse vermitteln, um an deutschen Hochschulen studieren zu können. Die DUO ist keine Universität, erarbeitet ihr Lernmaterial jedoch in Zusammenarbeit mit der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Geflüchtete können so flexibel online Sprachkenntnisse erwerben, und zwar vom allgemeinen Alltagsgebrauch bis hin zu fachsprachlichen Kenntnissen in speziellen Bereichen. Auf diese Weise soll es ihnen ermöglicht werden, an deutschen Hochschulen und Universitäten zu studieren oder Ausbildungen zu absolvieren.
Literatur
Hurtz, Simon. 2016. »Diese App soll Geflüchteten helfen, sich in Deutschland zurechtzufinden«; erschienen in Süddeutsche Zeitung, 13.01.2016; http://www.sueddeutsche.de/digital/integration-per-smartphone-diese-app-sollgefluechteten- helfen-sich-in-deutschland-zurecht-zu-finden-1.2817162; zuletzt abgerufen am: 07.07.2020.
Quelle
CC BY Opiela, Nicole und Mike Weber (2016): „Digitale Bildung – Ein Diskussionspapier“; ÖFIT-Whitepaper. Berlin: Kompetenzzentrum Öffentliche IT.http://www.oeffentliche-it.de/publikationen. Besucht am: 15.07.2020